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Taiji Buch Rezension: "Es gibt keine Geheimnisse"

Kampfkunst Taiji / Tai Chi: Buch Rezension

Es gibt keine Geheimnisse – Professor Cheng Man-ch’ing und sein Taijiquan“

 

Autor: Wolfe Lowenthal (Kolibri Verlag)

 

 

 

Ein äußerst subjektives Leseerlebnis von Tim Born.

 

Ganz kurz vorab, dies ist keine klassische Buchrezension, sondern vielmehr eine ganz persönliche innere Leseerfahrung ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit oder tieferes Verständnis des behandelten Themas. Letzteres schon allein darin begründet, dass ich erst im Herbst 2017 meinen Weg in der Jing Wu Kung-Fu-Schule begonnen habe. Seid also bitte gnädig mit meiner möglicherweise naiven Wirkungswahrnehmung des Gelesenen. Doch überflüssigen Manierismus beiseite, vielleicht geht’s ja auch genau darum ein bisschen.

Noch flott wie ich zum Buch kam: Im frühen 2018 musste ich beruflich drei Wochen Köln fernbleiben. Da ich zu diesem Zeitpunkt jedoch schon massiv Kung-Fu-Feuer gefangen hatte, fragte ich unseren Sifu, ob er mir nicht eine Lektüre angedeihen lassen könnte, um mein Training zumindest auf mentaler Ebene unterbrechungsfrei fortführen zu können. Auf seine Frage, welches Themenfeld mich denn besonders interessiere, überließ ich ihm die Auswahl mit den Worten: „Das, was du denkst, was für mich zum aktuellen Zeitpunkt gut passen könnte.“ Und das tat es.

Ich nahm also das Buch über die Lehren von Cheng Man-ch’ing samt einiger erklärender Worte von Sifu entgegen. Es seien auch viele sehr detaillierte Taiji-Passagen darin enthalten, die könne ich ja auch quer bis überlesen, so Sifu, sicher um mich nicht direkt zu überfordern oder um meinen Lesemut nicht bei der ersten „techy“ Passage abschmieren zu fühlen. Gespannt auf das Buch begann meine Job-Reise und ich fing direkt auf der Fahrt im ICE an, die ersten Kapitel zu lesen.

Ach ja, ich habe das Buch übrigens bereits zurückgegeben, schreibe also meine Eindrücke grad aus der Erinnerung. Mit etwas Abstand. Drum kann ich hier nicht mit Zitaten oder einzelnen expliziten Passagen dienen. Ist von meiner Warte aus aber nicht schlimm, da der Eindruck, den dieses Buch auf mich gemacht hat, eigentlich eher im Ganzen zu betrachten ist und auch viel zwischen den Zeilen stattgefunden hat. Ein netter Nebeneffekt: no Spoilers. So kann sich jeder von euch selbst frisch von null auf diese Lesereise begeben, wenn ihr mögt.

So, zurück zu Cheng. Beziehungsweise Wolfe, denn von ihm – Wolfe Lowenthal – ist das Buch schließlich geschrieben worden. Er war ein amerikanischer Schüler des „Meisters der fünf Vortrefflichkeiten“ (Taijiquan, Malerei, Kalligraphie, Dichtkunst und Medizin), wie Cheng Man-ch’ing schon zu Lebzeiten genannt wurde. Lowenthal liefert in seinem Buch natürlich auch die historischen Fakten: Cheng brachte in den sechziger Jahren Taijiquan in die USA, genauer gesagt nach New York, und öffnete die Pforten seiner Schule schnell für Schüler jeglicher Herkunft – ein Umstand, den NYC‘s chinesische Community, die Cheng eigentlich nur für ihren inneren Zirkel in die Stadt geholt hatte, anfänglich noch unerbittlich zu verhindern versuchte. Sie blieben in ihrem Dünkel erfolglos und Cheng Man-ch’ing ging in die Geschichte ein als derjenige, der das Taijiquan in die westliche Hemisphäre überführt hat. Das mal zur Historie.

Die eigentliche Substanz des Buches liegt allerdings in den Lehren Cheng Man-ch’ings selbst. Und hier muss man vorab einfach auch den Autor hervorheben. Denn genau das geschieht im Laufe des Buches nämlich nicht. Lowenthal verschwindet nahezu hinter seinem Text und überlässt den gesamten Raum seinen Erinnerungen an Cheng, seinen Lehren, seinen Anekdoten, seiner Weisheit. Auf diese Weise entsteht eine Unmittelbarkeit, die einfach Freude beim Lesen erzeugt. Sogar in den etwas technischeren Taiji-Passagen. Die habe ich nämlich alle gelesen. Nix quer, nix über. Zugegeben, an der ein oder anderen Stelle standen schon diverse Fragezeichen über meinem Kopf, aber dennoch schwang hier stets etwas mit, was mich am Ball gehalten hat.

Wenn man nun historische Fakten und taiji-spezifische Details wegsubtrahiert, was bleibt denn dann noch? Was ist es denn, was das Buch so fesselnd und besonders macht? Das ist schwer zu formulieren, doch es hat wohl etwas mit der ganzheitlichen Relevanz des Daos, des Wegs, zu tun, die den Lehren Cheng Man-ch’ings zu eigen ist und die ja auch grundsätzlich einen graduellen Unterschied zwischen Kampfkunst und Kampfsport ausmacht. (Zu diesem Thema gibt es einen interessanten Artikel von Sifu hier im Blog: https://www.kungfu-koeln.de/kampfsport-kampfkunst/)

Ich bin wohl der unesoterischste Mensch der Welt, insofern waren und sind Dinge wie Energiebahnen, Qi, chinesische Medizin und Artverwandtes keine Selbstläufer bei mir. Sogar definitiv nicht. Und doch kann ich mich der spirituellen Kraft von Chengs Weisheit in ihrer niedergeschriebenen Form nicht entziehen. Will ich auch gar nicht. Es sind oft so vermeintlich kleine Stellen im Buch, die mich immer wieder haben innehalten lassen. Mich einen kurzen Abschnitt wieder und wieder haben lesen lassen. Oder die auch mal zu einer längeren Pause geführt haben, in denen meine persönlichen Lesemomente der Klarheit aber irgendwie weiter im Hinterstübchen vor sich hin gekreiselt sind. Übrigens: das Buch eignet sich durch seine kurzen und mehr oder minder in sich geschlossenen Kapitel hervorragend für Intervall-Leser. Ich habe das kompakte Büchlein selbst über einen Zeitraum von rund fünf Wochen gelesen, ohne dass ich mich nach längeren Pausen wieder groß hätte reinarbeiten müssen.

Insgesamt waren es meistens unspektakuläre persönliche Anknüpfungspunkte an einzelne Textstellen, die sich im Nachhinein zu einem komplexeren Bild zusammengesetzt und mich bereichert haben. Oft war es auch mehr ein Gefühl beim Lesen, welches sich verschiedenartig auf die mir bislang bekannte Kung-Fu-Welt anwenden bis hin aufs Leben allgemein übertragen ließ. Das große Thema des Buches aber ist unterm Strich für mich persönlich der Umgang mit Verlust und Verlieren. Zulassen, Loslassen, Unvermeidbarkeit, Akzeptanz, Perspektiven, Interpretation, innere Haltung, Gewinn durch Verlust, Verlust durch Gewinn, Druck, Leichtheit, Kraft, Schwäche, Yin, Yang – hier geht eine ganze Philosophiebüchse der Pandora auf. Und das wirklich in einer Einfachheit, die komplett entwaffnet. Ich neige in der Regel dazu, die Welt mit einer gewissen ironischen Distanz zu betrachten. Der Flachs, die Satire, der Jokus – sie sind mir nicht fremd. Und so würde wohl so manche spirituell-philosophische Schrift meinem inneren Verhohnepipeln zum Opfer fallen. Doch dieses Buch ist anders. Cheng Man-ch’ings Lehren sind anders. Oder auch: Wolfe Lowenthals Verschriftlichung von Cheng Man-ch’ings Lehren sind anders. Ich bin mir nicht mal sicher, ob man überhaupt etwas mit Taiji oder Kung-Fu am Hut haben muss, um davon inspiriert werden zu können.

 In jedem Fall hat mich das Buch inspiriert. Es hat mich an die universelle Bedeutung von Demut erinnert. Und sein Nachhall begleitet mich seitdem. Im Training, bei der Arbeit, im Leben, in Gesellschaft und alleine. Nicht gewaltig, kein krasses Umkrempeln, kein Licht im Tunnel, sondern eine ganz dezente aber bestimmte Nuance, die ich jetzt etwas klarer vor Augen sehe als zuvor. Also genau das, was einen nachhaltigen Impuls von einem hochprozentigen Strohfeuer unterscheidet.

Es kann übrigens sehr gut sein, dass der von mir so emporgehobene Themenkomplex nur einer unter vielen ist und gar nicht die Prominenz im Buch hat, die ich ihm beimesse. Vielleicht habe ich mich einfach nur besonders von diesem Bereich angesprochen gefühlt. Die Tatsache, dass ich nicht mal genau sagen könnte, wieso der Titel des Buches „Es gibt keine Geheimnisse“ ist, deutet schon ein wenig darauf hin, dass ich mich hier beim Lesen schnell auf etwas Bestimmtes eingeschossen hatte. Von daher kann jeder, der vielleicht ein bisschen Lust bekommen hat da mal reinzuschauen, gespannt bleiben, was die Weisheit des Meisters der fünf Vortrefflichkeiten speziell ihr oder ihm zu bieten hat.

Bleibt abschließend für mich noch offen, ob unser Sifu hier direkt in mir den narzisstischen Egomanen, der alles immer mit Druck und Kraft sowie mit dem Kopf durch die Wand will, identifiziert hat und mit einer gezielten Prise Cheng Man-ch’ing gegensteuern wollte oder ob es ein ähnlich instinktiver Move von ihm war wie es wohl auch dem als schelmisch geltenden Taijiquan-Meister selbst gut zu Gesicht gestanden hätte. Seinem vieldeutigen Lächeln zurück in Köln bei unserem ersten kurzen Gespräch über das Buch nach zu urteilen, wären ihm aus meiner Sicht jedenfalls beide Varianten zuzutrauen.

 

In jedem Fall: Danke Sifu, danke Cheng, die Lektion angenommen er hat.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Meister Holger Heek (Sonntag, 08 April 2018 22:30)

    Mein lieber Tim,
    unabhängig von möglicherweise schelmischen Intentionen konnte ich nicht im Entferntesten erahnen, dass Du ein solch exzellentes subjektives Leseerlebnis verfassen würdest.
    Ich danke Dir herzlich für die Klarheit Deiner Worte und Gedanken und dass du uns hier so lebendig an Deinem Leseerlebnis teilhaben lässt.
    Ich bin sehr froh darüber, dass ich Dir dieses Buch anempfohlen habe; daraus hat sich viel Positives entwickelt.